Als Angehöriger hat man Angst: Angst davor, wie sich die Erkrankung weiterentwickelt, Angst um den Erkrankten, Angst davor, dass nichts mehr so wird, wie es einmal war – und große Angst davor, in einer Schublade zu landen – stigmatisiert zu werden. Stigmatisierung – also Ausgrenzung – widerfährt nicht nur psychisch erkrankten Menschen, sondern auch ihren Angehörigen. Freunde, Familie, Arbeitskollegen usw. wissen nicht, wie sie mit dem Thema psychische Erkrankung umgehen sollen, als betroffene Familie kann man oftmals nicht mehr so spontan handeln wie früher. Freunde oder man selbst zieht sich zurück, das Verständnis für kurzfristig abgesagte Treffen nimmt deutlich ab – und so finden sich betroffene Familien zunehmend in einer isolierten Situation wieder.

Wenn man dann von “außen” vielleicht auch noch negative Kommentare und Meinungen zu psychischen Erkrankungen mitbekommt, dann ist die Angst vor weiterer Ausgrenzung und Stigmatisierung groß.

Und dann man entscheidet sich, zu schweigen, gar nichts zu erzählen, irgendwie sein Leben so gut wie möglich um die Erkrankung “herum zu organisieren”.

Aber Stigmatisierung geschieht nicht nur durch “die Anderen”. Ohne dass es ihnen selbst meist bewusst ist, stigmatisieren sich viele Erkrankte und auch deren Angehörige selbst (um ein altmodischeres Wort zu verwenden – sie quälen sich mit Selbstvorwürfen).

Woher kommt Selbststigmatisierung?

Wir alle hatten ein Leben VOR der Erkrankung. Vielleicht sind wir aufgewachsen mit negativen Überzeugungen, Meinungen und Annahmen zu psychischen Erkrankungen, haben diese verinnerlicht und haben sie mitgenommen, in unser Leben MIT der psychischen Erkrankung. Ich kenne keine Mutter eines PE, die nicht bei dem Satz “die Mutter ist schuld” innerlich zusammenzuckt, obwohl dieser Freudsche Blödsinn schon seit Jahren widerlegt ist und in Fachkreisen so auch gar nicht mehr angewandt wird. Wenn man also früher diese Überzeugung hatte und sie nie wirklich infrage gestellt hat, dann wird man auf diese Aussage auch reagieren, sich schuldig fühlen – und schweigen… Eben, weil man diesem Stigma innerlich zustimmt.

Kann man lernen, sich selbst nicht mehr zu stigmatisieren?

Ja!

5 Schritte, um sich von Selbststigmatisierung zu befreien

Bleiben wir beim oben genannten Beispiel: Die Mutter eines psychisch kranken Kindes fühlt sich “schuldig” an der Erkrankung des Kindes.

Schritt 1: Formulieren Sie einen Satz, mit dem Sie sich selbst stigmatisieren, wie Sie sich mit Selbstvorwürfen quälen. In unserem Beispiel wäre es:

“Mein Kind ist psychisch krank, weil ich als Mutter versagt habe.”

Schritt 2: Formulieren Sie den Satz um als allgemeingültige Aussage:

“Alle Mütter, die ein psychisch erkranktes Kind haben, haben als Mutter total versagt.”

Eigentlich eine ziemlich absurde Annahme, wenn man es so pauschaliert – oder?

Schritt 3: Um diese Annahme zu ändern, können Sie andere fragen, ob sie dieser Aussage zustimmen oder nicht. Fragen Sie Menschen, denen Sie vertrauen und von denen Sie wissen, dass Sie eine ehrliche Antwort bekommen. Sammeln Sie Antworten aus mehreren Quellen: Fragen Sie enge Freunde, fragen Sie einen Facharzt, lesen Sie Fachliteratur, gehen Sie in eine Angehörigengruppe. Sie werden feststellen, dass Ihre Annahme – “alle Mütter, die ein psychisch erkranktes Kind haben, haben als Mutter total versagt” – so von anderen nicht bestätigt wird und nicht zutrifft.

Sammeln Sie dann noch weitere “Belege”. Hat Ihnen in letzter Zeit jemand gesagt, dass Sie eine gute Mutter sind? Können Sie sich an Situationen erinnern, in denen Sie eine liebe, fürsorgliche, unterstützende und gute Mutter waren?

Schritt 4: Halten Sie inne und werten Sie die gesammelten Feedbacks und Belege aus. Vielleicht stellen Sie fest, dass Ihre Überzeugung (“alle Mütter psychisch kranker Kinder haben versagt”), nicht wahr ist.

Schritt 5: Formulieren Sie für sich den stigmatisierenden Satz um, um eine neue Einstellung zu entwickeln, die der verletzenden Überzeugung entgegenwirkt. In unserem Beispiel wäre es:

“Mein Kind ist psychisch erkrankt (so wie jeder 4. Deutsche im Laufe seines Lebens) und das ist ein Schicksal, das uns getroffen hat wie z.B. eine Diabetes- oder Stoffwechselerkrankung. Eine psychische Erkrankung hat schwerwiegende Auswirkungen auf den Betroffenen und auch auf die Angehörigen und wir müssen als Familie mit zusätzlichen Belastungen und Herausforderungen zurechtkommen, die andere Familien so nicht erleben”.

“Ich habe als Mutter nicht versagt. Im Gegenteil: ich liebe und akzeptiere mein Kind, das spezielle Bedürfnisse hat ohne jeden Vorbehalt. Das macht mich zu einer tollen Mutter! Andere würden unser Schicksal nicht so meistern können”

Ich trage seit Jahren eine laminierte Karte in meinem Portemonnaie mit mir herum. Darauf habe ich meine Gegenaussage geschrieben und hole sie in schwachen Momenten heraus, wenn ich mich wegen Unzulänglichkeiten als Angehörige schlecht fühle.

Natürlich sind diese 5 Schritt keine Garantie dafür, dass Sie sich nie wieder schlecht, schuldig oder unzulänglich fühlen werden. Die Selbststigmatisierung hat sich über viele Jahr in Ihr Gehirn und in Ihre Gefühle eingenistet – sie wieder loszuwerden ist Arbeit – aber es ist möglich!

Abschließend noch ein Gedanke: Aussagen wie das hier genannte Beispiel, ebenso wie andere Stereotype/Vorurteile zu psychischen Erkrankungen gehören zur gleichen Art abwertender Äußerungen wie diskriminierende, rassistische oder sexistische Kommentare. Sie sind verletzend, abwertend und unfair. Sowohl von Dritten als auch von uns selbst.