Ich bin Corona-müde. Corona und alles, was dazu gehört, hängt mir so unendlich zum Hals raus.
Aber ich bin vernünftig, denn ich gehöre zur Risikogruppe. Weil ich mich und Dritte nicht belasten und gefährden will, folge ich den Verhaltensempfehlungen und bin also vernünftig.
Aber gleichzeitig wächst in mir der Ärger und Unmut über diese mir durch ein Virus aufgezwungene Vernunft. Ich will so langsam nichts mehr hören und sehen über dieses Thema, aber es gibt kein Entkommen. Fernsehen, Zeitungen, Radio, E-Mails, Facebook, Websites überall nur noch Corona, Corona, Corona. Mein Informationsinput besteht seit Ausbruch der Pandemie eigentlich nur noch aus Empfehlungen, wie ich mit den psychischen Belastungen durch Corona umgehen kann/soll/muss.
„So stärken Sie Ihre Resilienz“… „wie halte ich mich trotz Corona aktiv?“… „5 Tipps, um in Zeiten von Corona die Nerven zu behalten“… „Haben Sie es schon mit Waldbaden versucht?“….“Telefontherapie“….“Yoga“….“Palmwedel-Sud“….“einfach mal….“… Ich werde medial überschwemmt von Ratgebern, motivierenden Artikeln, Bildchen, Vorschlägen und glänzenden Beispielen, wie andere ihre mulmige Gefühlslage in den Griff bekommen. Ich will nicht zynisch sein: Alle diese Informationen und empfohlenen Bewältigungsstrategien sind richtig und wichtig, bestimmt für den einen oder anderen hilfreich und entlastend – und vor allem geschehen aus den besten Absichten – nämlich Menschen zu unterstützen, zu helfen und beizustehen.
Aber bei mir funktioniert das alles irgendwie nicht. Es will mir einfach nicht gelingen, die empfohlenen Strategien nachhaltig umzusetzen. Versucht habe ich es wohl – wirklich viel gefruchtet hat es nicht. Und so wächst in mir gleichzeitig die Frustration über meine eigene Unfähigkeit – schließlich wurden diese Hilfsstrategien mit großer professioneller Expertise und Sorgfalt ausgearbeitet und scheinen bei anderen ja auch erfolgreich zu sein. Warum bei mir nicht? Stimmt mit mir irgendwas nicht? Vielleicht WILL ich gar nicht lernen, mit diesen Corona-bedingten Belastungen „umzugehen“?
Und wenn ich ganz ehrlich bin: Ich will einfach nur mein ganz normales Leben zurück. Ich will mich mit diesen einschneidenden und womöglich lebenslangen Veränderungen nicht abfinden müssen. Ich will, dass dieses Bedrohungsgefühl, diese Unsicherheit, die Rat- und Hilflosigkeit einfach aufhört und ich wieder in mein normales, geordnetes Leben zurückschlüpfen kann.
Seit nun fast 3 Monaten isoliere mich, lasse meinen Mann für mich einkaufen, arbeite im Homeoffice und bemühe mich, das zunehmend nagende Gefühl der Frustration unter Kontrolle zu behalten. Aber ich bemerke an mir eine zunehmende Bockigkeit, ich reagiere mehr und mehr zynisch auf Aussagen wie „gemeinsam durch Corona“, „Krise als Chance“, „Quarantine and chill“. Woher kommt dieser Zynismus? Ich denke, daher, dass ich nicht an irgendwelchen Auswirkungen und Symptomen herumdoktern will – und dabei tief im Herzen zu wissen, dass eben nie wieder etwas so werden wird, wie es einmal war. Ich mag schon gar nicht mehr in den Spiegel schauen, man sieht es mir inzwischen an: Ich bin gefrustet, wütend und verzagt.
Und neulich wurde mir dann klar: diesen Ausdruck habe ich doch schon oft gesehen? Tatsächlich kenne ich diese Emotionen von meinem psychisch erkrankten Angehörigen – die Frustration, die Wut, die Verzagtheit. Mit dem großen Unterschied, dass ich schon nach wenigen Wochen „keine Lust“ mehr habe – mein Angehöriger durchlebt diese Bedrückung seit Jahren.
Isolation, Einsamkeit, Hilflosigkeit, Fehlen von Verständnis und selbstgewähltes Schweigen, weil man die Reaktion des Umfelds fürchtet sowie die Angst vor einer ungewissen Zukunft und schwindende Zuversicht, dass alles irgendwann wieder „normal“ wird – das ist für meinen Angehörigen Alltag. Vielleicht ist diese Gemütslage mit ein Grund dafür, dass psychisch erkrankten Menschen irgendwann einmal „die Luft ausgeht“ und sie nicht mehr bereit sind, Hilfsangebote anzunehmen, nicht nochmal in die Psychiatrie gehen wollen, kein neues Medikament ausprobieren wollen und von dem ganzen Kram einfach nichts mehr hören wollen.
Das Furnier der psychischen Gesundheit ist tatsächlich erstaunlich dünn. Sie haben es bestimmt auch gelesen: Großdemonstrationen gegen Corona-Beschränkungen, Familienzusammenkünfte, die polizeilich aufgelöst werden müssen, Ordnungsstrafen wegen Corona-Auflagen-Verstößen. Aktionen von (psychisch gesunden) Menschen, deren Frustration offenbar überhandgenommen hat, die ausbrechen aus dem derzeit engen Korsett der Vernunft und mit risikoreichen Mitteln für sich eine Rückkehr in die „Normalität“ erzwingen wollen – entgegen wissenschaftlichem Erkenntnisstand und womöglich auch auf Kosten und unter Gefährdung Dritter. Wohlgemerkt nach gerade einmal wenigen Wochen der Beschränkung ihrer Freiheiten.
Irgendwie sehe ich so den Widerwillen meines Angehörigen gegen „gute Ratschläge“ in einem ganz neuen Licht. Eigentlich verwundert es mich inzwischen sogar, dass er angesichts der jahrelangen Einschränkungen nicht viel öfter „ausgebrochen“ ist und mit unkonventionellen Mitteln versucht hat, wieder eine gewisse Autonomie für sich zu erkämpfen.
Und was ist nun mein Fazit? Durch Corona habe ich einen kleinen Einblick bekommen in die Lebens- und Gefühlswelt meines psychisch erkrankten Angehörigen. Wenige Wochen haben ausgereicht, um mich zu verunsichern, mich zu frustrieren und es bedarf großer Anstrengungen, die innere Stimme in mir zum Schweigen zu bringen, die mir einflüstert, einfach auszubrechen, zu verzweifeln, aufzugeben. Mein Angehöriger durchlebt dies seit Jahren, ist seit Jahren „vernünftig“, aus Rücksicht auf sein Umfeld, nimmt klaglos immer neue „Hilfsvorschläge für Bewältigungsstrategien“ an, findet sich ab mit den ihm auferlegten Einschränkungen. Dafür hat er meinen allergrößten Respekt. Und insofern bleibt mir eine Message an Corona: „Danke für den Perspektivwechsel – und jetzt hau endlich ab!“